Forschungsprojekt

(Natur)wissenschaftliche Gesellschaften in Wien im langen 19. Jahrhundert (1790-1918)

(Natur)wissenschaftliche Gesellschaften zählen zu den einflussreichsten Formen der Wissenschaftsorganisation. Ende des 18. Jahrhunderts als Emanzipationsbewegung des sich formierenden Bürgertums entstanden, entfaltete das wissenschaftliche Vereinswesen im Laufe des 19. Jahrhunderts eine hohe Breitenwirksamkeit und Inklusivität. Die bürgerlichen Vereine verstanden sich in erster Linie als Kommunikationsgemeinschaften, welche günstige Rahmenbedingungen für die in den Statuten definierten Ziele schaffen sollten. Durch Sicherstellung einer mittels regelmäßiger Sitzungen und Publikationen geschaffenen Plattform für ihre Mitglieder wurden die Gesellschaften nach innen stabilisiert. Zugleich kanalisierten sie aber auch Kommunikationsprozesse nach außen, vermittelten zwischen lokalen, regionalen und länderübergreifenden Wissenskulturen, generalisierten lokales Wissen und hatten Anteil an der Etablierung des wissenschaftlichen Zeitschriftenwesens.
Ausgehend von der 1790 gegründeten Kartographischen Gesellschaft, der ersten wissenschaftlichen Gesellschaft Wiens, führte der von 1840 bis 1914 in mehreren Phasen ablaufende Gründungsboom bei wissenschaftlichen Korporationen innerhalb weniger Jahre zu einer Vervielfachung der Vereins- und Mitgliederzahlen in der Reichshaupt- und Residenzstadt der Habsburgermonarchie. Vereine wie die k.k. Geographische und k.k. Zoologisch-Botanische Gesellschaft konnten wenige Jahre nach ihrer Gründung schon über 500-1.000 Mitglieder aus allen Teilen der Monarchie verfügen, die ohne finanzielle Gegenleistung partizipativ an Großprojekten mitarbeiteten. Von den um 1900 bereits rund 450 in Zisleithanien bestehenden wissenschaftlichen Vereinen waren alleine 90 in Wien situiert, die entweder selbst Sektionen in den Kronländern unterhielten oder zumindest im länderübergreifenden System des Wissenstransfers eine privilegierte Stellung einnahmen. Zählten die in Wien vor 1914 bestehenden bürgerlichen Wissenschaftsgesellschaften zu den führenden Europas, bedeutete der politische Wandel nach Kriegsende verbunden mit dem „Verlust“ finanzieller Rücklagen, traditioneller Forschungsgebiete und von Kommunikationsnetzwerken mit dem nicht-deutschsprachigen Ausland einen nachhaltigen Bruch, von dem sich weder die Vereine noch der damit verbundene Wissenschaftsstandort erholen konnten.
Hans-Peter Hye bringt die Verdichtungsprozesse im Mikrokosmus des Vereinswesens mit Verdichtungsvorgängen in der bürgerlichen Gesellschaft in Verbindung. Dasselbe gilt auch für wissen(schaft)sbezogene Prozesse: Die Mehrzahl der wissenschaftlichen Vereine in Wien unterhielt nicht nur anerkannte Zeitschriften- und Vortragsreihen, sondern verfügte auch um beträchtliche Stiftungsmittel, entsandte selbst oder beteiligte sich bei Übersee-Expeditionen, baute umfangreiche Sammlungs- bzw. Bibliotheksbestände auf und führte staatliche Forschungsprojekte durch. In Disziplinen, welche auf einen großen Pool an Personal- und Datenressourcen angewiesen waren, schufen Vereine erst die Grundlage für die Realisierung großer Forschungsprojekte und die „Performance“ staatlicher Forschungseinrichtungen.
Ein von Johannes Mattes (Österreichische Akademie der Wissenschaften) durchgeführtes Forschungsprojekt widmet sich der Entwicklung (natur)wissenschaftlicher Vereine in Wien während des langen 19. Jahrhunderts. Im Vergleich mit anderen europäischen Gesellschaften wird dabei anhand von rund zehn repräsentativen Vereinen (u.a. k.k. Geographische und k.k. Zoologisch-Botanische Gesellschaft) deren Einfluss auf die Produktion und Dissemination von Wissen erforscht. Hierfür wählt das Projekt einen doppelten Zugriff auf seinen Gegenstand:
1) Einerseits werden die bürgerlichen Vereine anhand ihrer Kommunikationsformate als Schnittstelle zwischen unterschiedlichen Kulturen und Akteuren des Wissens untersucht. Dabei wird u.a. erforscht, welchen Anteil die Gesellschaften gemäß ihrer Mittlerrolle an der Schaffung einer wissenschaftlichen Öffentlichkeit und der zunehmenden Differenzierung zwischen „professionellen“ Forschern und Amateuren hatten.
2) Anderseits beschäftigt sich das Forschungsprojekt mit dem Verhältnis der Vereine zu staatlichen Forschungseinrichtungen (u.a. Universität, Naturhistorisches Hofmuseum, Akademie, Geologische Reichsanstalt) und dem Gesamtstaat der Habsburgermonarchie, dessen geographische und kulturelle Entität durch kooperative Forschungsvorhaben bekräftigt wurde. Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei die Nähe der Gesellschaften zur Politik, deren Einflussnahme, Förderung und Überwachung in einzelnen – im Sinne der Staatsräson – „nützlichen“ Forschungsfeldern (z.B. Geografie, Geologie, Meteorologie, Statistik, Landwirtschaft, Bergbau) frühe Disziplinbildungsprozesse und die Gründung staatlicher Forschungseinrichtungen wie z.B. der Centralanstalt für Meteorologie und Erdmagnetismus (1851) bedingten.
Das Forschungsprojekt leistet damit einen wichtigen Beitrag zum Verständnis von langfristigen Transformationsprozessen in der Wissenschaftsgeschichte der Habsburgermonarchie.

Literatur

DAUM, P.: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jh. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848–1914. Neue Aufl. Berlin/Boston 2018.
HYE, H.-P.: Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Österreich. In: Beiträge zur historischen Sozialkunde, 19, 1988. S. 86–96.
KLEMUN, M.: Die Gründung des „Zoologisch-botanischen Vereins“ 1851 – eine „Kathedrale“ der Naturgeschichte. In: Verhandlungen der Zoolog.-Botan. Ges., 138, 2001. S. 255–270.
KRETSCHMER, I.: 150 Jahre Österr. Geographische Ges. und ihre Vorgänger. In: Dies. (Hg.): Das Jubiläum der Österreichischen Geographischen Ges.: 150 Jahre. Wien 2007. S. 25–38

Laufzeit
seit 2019

Bearbeiter
Dr. Johannes Mattes, M.A. Geschichte und Deutsch

Publikationen

Talking about popular science in the metropolis: Learned societies, multiple publics and spatial practices in Vienna (1840–1900). In: Mitchell G. Ash (ed.): Science in the metropolis: Vienna in transnational context 1848–1914. New York: Routledge 2020, pp. 175-199.

Imperial science, unified forces and disciplinary boundary-work: Geographical and geological societies in Vienna between 1850 and the 1920s. In: Annals of the Austrian Geographical Society, 162, 2020, S. 155–210.

Collaborative Research in Imperial Vienna: Science Organization, Statehood, and Civil Society, 1848–1914. In: Austrian History
Yearbook (Cambridge), 55, 2024, S. 1–28

Institution
Österreichische Akademie der Wissenschaften

Weitere Informationen
Dr. Johannes Mattes
Österreichische Akademie der Wissenschaften
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E-Mail: johannes.mattes@oeaw.ac.at