Die sogenannte „raumtheoretische Wende“ (spatial turn) hat nicht nur Geographinnen und Geographen von Neuem darüber nachdenken lassen, was und wie „Raum“ bzw. „Raumforschung“ sein kann. Sie hat vielmehr auch zahlreiche Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften dazu gebracht, sich „Räumen“ und „Raumfragen“ zuzuwenden. Vor diesem Hintergrund hat sich meine Dissertation einer Raumkontroverse zugewandt, wie sie sich im deutschsprachigen Diskurs unlängst zwischen einer neueren Sozial- und Kulturgeographie einerseits und einer stärker raumzentrierten Geschichtswissenschaft andererseits aufgetan hat.
Ausgehend von dieser Problemlage, versteht sich meine Dissertation als ein Beitrag zur Konvergenz von Geographie und Geschichte, indem sie einen Weg aufzuzeigen versucht, der geographische wie auch historische Ansichten darüber, wie man „im Raume die Zeit lesen kann„, wieder in Einklang zueinander bringt. Dazu wurde, unter Rekurs auf Arbeiten und Theoreme eines zeitgenössischen Indizienparadigmas, das Konzept des geohistorischen Spurenlesens entwickelt und hinsichtlich der Frage, wie es selbst raum- und zeitbezogen theoretisiert werden kann, genauer ausbuchstabiert. Bei alledem fand das Spurenlesen nicht als eine wissenschaftsdetektivische Suche nach noch unbekannten epistemischen Dingen seine konzeptionelle Fundamentierung, sondern als eine, die sich mehr für die Alltäglichkeit des Spurenlesens, wie auch den Nachvollzug dieser Alltäglichkeit in ihrer Praxis interessieren sollte. Über die reine Erschließung geohistorischer Spurengegenstände (bspw. Landschaften) hinausgehend, lag der Fokus also eher auf dem Akt des Spurenlesens und damit zugleich auch auf dem Spurenleser selbst.
Auf diese Art wurde das Konzept geohistorischen Spurenlesens schließlich in eine methodisch-empirische Anwendung gebracht, um in diesem Fall exemplarisch zu ergründen, welche raumzeitlichen Spuren die DDR und die deutsche Teilung bis heute in der alltäglichen und kleinteiligeren Erinnerungspraxis diverser Geschichtsakteure hinterlassen hat. Hierzu sind Erinnerungsspuren von DDR-Zeitzeugen gesichtet, erfragt, gehoben und inspiziert worden, die im dynamisch-fluiden Gesellschafts- und Wissenschaftsdiskurs über ein zu gestaltendes „DDR-Gedächtnis“ bisher größtenteils unbeachtet geblieben sind: die Erinnerungsspuren ehemaliger Grenz(land)bewohner. Anhand einzelner Fallgeschichten konnte letztlich gezeigt werden, wie über ein erinnerndes Spurenlesen verborgenen, verdeckten oder verloren gegangenen Ortsspuren DDR-bezogener Vergangenheiten sowohl eine Bühne, wie auch vergessenen oder bisher weithin nicht-erzählten Grenzerinnerungen eine Stimme gegeben werden kann.
Laufzeit
10/2011 – 06/2017
Bearbeiter
Ralf Leipold
Publikationen
Leipold, R. (2014): Alltägliche Geographien der Erinnerung. Zur Rekonstruktion einer Erinnerungspraxis am Beispiel des »Denkmals für die ermordeten Juden Europas«. Sozialgeographische Manuskripte. Band 17. Jena: Selbstverlag der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Leipold, R. (2015): Begriffene Welt und das (verborgene) Wissen um und über Räume. In: Hofmann, K. P. & S. Schreiber (Hrsg.): Raumwissen & Wissensräume. eTopoi. Journal for Ancient Studies. Special Volume 5, 39-63.
Leipold, R. (2015): Über Geographie und Geschichte, geohistorisches Spurenlesen und Mauererinnerungen. In: Steinkrüger, J.-E. & W. Schenk (Hrsg.): Zwischen Geschichte und Geographie, zwischen Raum und Zeit. Beiträge der Tagung vom 11. und 12. April 2014 an der Universität Bonn. Münster: LIT Verlag, 77-89.
Leipold, R. (2018): Geographie als Erinnerung. Von gespurten Erinnerungen und erinnerten Spuren. In: Maus, G. & S. Petermann (Hrsg.): Erinnerungen, Spuren, Überreste: Beiträge der geographischen Erinnerungsforschung für die Sozial- und Kulturgeographie. (eingereicht)
Weitere Informationen
Dr. Ralf Leipold
ralf.leipold@uni-jena.de