Am 3. November 1875 löste der schwedische Geologe Otto Torell auf einem Vortrag in Berlin eine weitreichende Debatte aus, als er Schrammen auf den Muschelkalkfelsen in Rüdersdorf als Gletscherschliffe identifizierte und dabei das Szenario einer ausgedehnten Inlandeisvergletscherung für Norddeutschland während der Eiszeit entwarf. Durch den Nachweis der Gletscherschliffe setzte in der deutschen Geologie eine große Unruhe ein, die nahezu jeden einzelnen Geologen erfasste. Torell hatte nicht nur die bisher als allgemeingültig akzeptierte Theorie der marinen Verdriftung durch Eisberge in ihren Grundfesten erschüttert, sondern unbeabsichtigt auch das mühsam ausgehandelte, standardisierte Aufnahmeverfahren der Landesaufnahmen ins Wanken gebracht, welches auf Basis eines bis dahin scheinbar gesicherten theoretischen Rahmens eine einheitliche und systematische Kartierung gewährleisten sollte. Die Mitarbeiter der gerade Anfang der 1870er Jahre institutionalisierten geologischen Landesaufnahmen von Preußen und Sachsen, zu denen auch seit 1877 der gerade einmal neunzehn Jahre alte Albrecht Penck gehörte, waren sichtlich irritiert. Einerseits schürte die Kontroverse unter den Beteiligten die Unsicherheit, dass die sorgfältig geplanten Kartierungen durch die unsichere Forschungslage in Teilen Makulatur werden könnten, anderseits bot sich auch die Chance zur Lösung eines größeren wissenschaftlichen Problems beizutragen, was gerade für jüngere Geologen einen enormen Anreiz schuf. Auf der Suche nach einer fassbaren Ordnung im Chaos der diluvialen Ablagerungen entfalteten die norddeutschen Geologen eine bis dahin beispiellose Aktivität, die für den jungen und ambitionierten sächsischen Nachwuchswissenschaftler langfristige Auswirkungen haben sollte. Penck gelang es im Verlauf seiner Kartierungsarbeiten erstmalig die Drifttheorie für Norddeutschland zu widerlegen und nicht nur eine einzige, sondern eine zweifache Vergletscherung Norddeutschlands nachzuweisen sowie Indizien für eine dritte Vergletscherung zu finden, für die er erst im Alpenvorland den schlagenden Nachweis erbringen konnte.
In Pencks Biographie bündeln sich verschiedene Problemstellungen in einzigartiger Weise und ermöglichen es der Frage nachzugehen, wie und warum einige Geologen gegen Ende des 19. Jahrhunderts in die Geographie abwanderten und diese zu „geologisieren“ begannen, mit Konsequenzen für sich und andere, für die Geographie als akademische Disziplin und die geowissenschaftliche Forschung und Lehre insgesamt. Von besonderem Interesse ist aber auch die generelle Frage, wie Geowissenschaftler zu ihren Erkenntnissen kamen. Wirft man einen Blick in die zeitgenössischen Vorwörter, Einleitungen und (auto-)biographischen Betrachtungen von Geologen, Geographen oder Vertretern ähnlicher Disziplinen vom 19. bis zum 20. Jahrhundert, so finden sich immer wieder Selbstzuschreibungen und Selbstvergewisserungen von Wissenschaftlern, die nahezu mantraartig beschwören, dass sie „selbst ins Feld“ gegangen sind und „vor Ort“ alles „mit eigenen Augen“ gesehen haben. Dieses transdisziplinäre Selbstverständnis repräsentiert das klassische empirische Ideal der Naturwissenschaften und kann ebenso als kollektives Phänomen einer „epistemischen (Praxis-)Kultur“ von Geologen und Geographen untersucht werden. Neben dem Schreibtisch und dem Labor war das Feld der zentrale Ort der geowissenschaftlichen Wissensgenerierung im 19. Jahrhundert. Unklar ist jedoch, was sich hinter den diffusen Begriffen des „Felds“ und der „Beobachtung“ überhaupt verbarg. Wie wurde die Beobachtung im Feld eingeübt und wissenschaftliches „Sehen“ erlernt? Was bedeutete es in der alltäglichen Praxis für die Wissenschaftler „ins Feld“ zu gehen und dort zu arbeiten? Welcher Instrumente, Hilfsmittel und anderer Dinge bedienten sich die Wissenschaftler und wie wandten sie diese zur Gewinnung von neuen Erkenntnissen nutzbringend an? In welche Institutionen, Netzwerke und epistemischen Werte- und Wissensordnungen waren sie eingebunden? Wie kooperierten und kommunizierten die Wissenschaftler national und international mit anderen Akteuren? Welche Konflikte und Aushandlungsprozesse trugen sie im Alltag und in Kontroversen miteinander aus? Welchen moralischen und methodischen Zwängen unterlagen sie und welche Möglichkeiten eröffneten sich im Rahmen der strukturellen Bedingungen?
Diese und weitere Fragen werden in der Arbeit aus Perspektive einer historischen Praxeologie am Beispiel der beruflichen Anfänge Albrecht Pencks vor dem Hintergrund der Inlandeiskontroverse untersucht. Die Kontroverse erweist sich als Schlüssel, um sowohl die epistemischen Praktiken der Wissensgenerierung als auch die Handlungsspielräume der beteiligten Akteure bei der Verteidigung und Durchsetzung von Wissensansprüchen im historischen Kontext nachzuvollziehen.
Volltext
Henniges, N. (2017). Die Spur des Eises: eine praxeologische Studie über die wissenschaftlichen Anfänge des Geologen und Geographen Albrecht Penck (1858-1945). (Beiträge zur regionalen Geographie, 69). Leipzig: Leibniz-Institut für Länderkunde e.V. (IfL).
Laufzeit
03/2008 – 12/2013
Bearbeiter
Norman Henniges
Gutacher
1. Prof. Dr. Hans-Dietrich Schultz, Geographisches Institut, Humboldt Universität zu Berlin
2. Prof. Dr. Ute Wardenga, Leibniz-Institut für Länderkunde, Leipzig
3. Prof. Dr. Otfried Baume, Geographisches Institut, Ludwig-Maximilians-Universität München
Publikationen
Norman Henniges: Die Spur des Eises ─ Eine praxeologische Studie über die wissenschaftlichen Anfänge des Geologen und Geographen Albrecht Penck (1858-1945), Leipzig 2017 (= Beiträge zur Regionalen Geographie; 69), 556 S.
Norman Henniges: Albrecht Penck. In: Ingo Haar, Michael Fahlbusch und Alexander Pinwinkler. Unter Mitarbeit von David Hamann. (Hrsg.): Handbuch der Völkischen Wissenschaften, 2. Aufl., Bd. 1: Biographien, Berlin 2017, S. 570-577.
Norman Henniges: „Naturgesetze der Kultur“: Die Wiener Geographen und die Ursprünge der Volks- und Kulturbodentheorie In: ACME. An International E-Journal for Critical Geographies 14, H. 4 (2015), S. 1309-1351 [double-blind peer reviewed]. > Volltext
Norman Henniges: „Sehen lernen“: Die Exkursionen des Wiener Geographischen Instituts und die Formierung der Praxiskultur der geographischen (Feld-)Beobachtung in der Ära Albrecht Penck (1885 bis 1906). In: Mitteilungen der Österreichischen Geographischen Gesellschaft, 156 (2014), S. 141-170 [double-blind peer reviewed].> Volltext
Norman Henniges: Die Spur des Eises: Albrecht Penck (1858-1945) und die Anfänge der geographischen Feldforschung vor dem Hintergrund der Inlandeiskontroverse, ca. 1875-1885. In: Johannes Seidl (Hrsg.): GeoGeschichte und Archiv: wissenschaftshistorischer Workshop, 2. Dezember 2011, Festsaal des Archivs der Universität Wien; Beiträge; 10. Tagung der Österreichischen Arbeitsgruppe „Geschichte der Erdwissenschaften“, Wien 2011 (= Berichte der geologischen Bundesanstalt; 89), S. 19-22.
Kooperation(en)
Geographisches Institut, Humboldt Universität zu Berlin
Leibniz-Institut für Länderkunde, Leipzig
Geographisches Institut, Ludwig-Maximilians-Universität München
Rezensionen
Petra Svatek (2019) Norman Henniges: Die Spur des Eises. Eine praxeologische Studie über die wissenschaftlichen Anfänge des Geologen und Geographen Albrecht Penck (1858–1945), Leipzig 2017. In: Imago Mundi, 71:2, 217-218, DOI: 10.1080/03085694.2019.1607081
To link to this article: https://doi.org/10.1080/03085694.2019.1607081
Weitere Informationen
Dr. Norman Henniges
norman.henniges@uni-erfurt.de
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