„Ich sehe das Schulzimmer. Vier Fenster, Katheder, Ofen, Schrank, Wandkarte. Da fehlt nichts, das Bild ist noch vollständig.“ In seinen Lebenserinnerungen zeichnete der Schriftsteller Hermann Hesse das charakteristische Arrangement einer Dorfschule nach, wie es viele Menschen des 19. und 20. Jahrhunderts von frühester Jugend an kenngelernt hatten. Die materielle Kultur des Klassenraums war immer auch ein kollektiver Erinnerungsraum. Nahezu selbstverständlich gehörten für Hesse und viele darauffolgende Generationen auch die großformatigen Schulwandkarten bzw. –bilder dazu. Diese Visualisierungen zogen die Blicke nicht allein durch die ausgreifenden Dimensionen ihrer physischen Präsenz im Klassenraum auf sich, sondern auch durch ihre einprägsame graphische und künstlerische Gestaltung.
Anders als der Schulatlas, das Erdkundelehrbuch oder der Globus waren Schulwandkarten und -bilder mit ihrer markigen Gestaltung, den bunten Farben und ihren imponierenden Ausmaßen für den frontalen Gruppenunterricht konzipiert, wodurch jedes Kind auch von der letzten Bankreihe aus das Wesentliche sehen konnte. Vor allem in den Dorfschulen, in denen nicht jedes Kind über einen eigenen Schulatlas oder Lehrbuch verfügte, durften diese großformatigen Visualisierungen aus Papier, Leinwand und Holz in keiner Erdkundestunde fehlen und waren auch im Geschichts- und Religionsunterricht dominierende Fixpunkte in jedem Klassenzimmer. Für viele Generationen von Kindern und Jugendlichen stellten sie den ersten Zugang zur Welt dar, über die sie sich räumlich verorten konnten. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts erhielten Schulwandkarten und –bilder zunehmend Konkurrenz durch Lichtbilder, Filme und Overheadfolien. Doch erst der digitale Umbruch der Jahrtausendwende führte zum allmählichen Ende dieser Mediengattung in seiner materiellen Präsenzform. Mit dem Aufhängen am Kartenständer, dem langsamen Ausrollen und den Bewegungen des Zeigestocks unter Erläuterung der Lehrkraft, entfalteten sich vor den Augen der Kinder neue Erdteile, Regionen und Landschaften, die von der Heimat in ferne exotisch anmutende Länder und schließlich zur Erde als Ganzes führten. Dabei unterlagen Karten mit ihrer generalisierenden Draufsicht und Bilder mit ihren typologischen Landschaftsausschnitten jeweils eigenen Darstellungsmodi, die wiederum in unterschiedlich arrangierten Medienensembles eng miteinander verknüpft werden konnten.
Die zentrale Aufgabe dieser Medien bestand vor allem in der anschaulichen, kartographischen bzw. bildlichen Vermittlung von räumlichem Wissen über die Erde. Aber häufig waren die großformatigen Karten und Bilder weit mehr als das. Im „langen“ 19. Jahrhundert waren diese eurozentrierten Raumvisualisierungen elementare Bestandteile für den heimatkundlichen und nationalen Ansschauungsunterricht. Im Zeitalter des Hochimperialismus zwischen 1880 und 1920 dienten sie schließlich zur Vermittlung einer asymmetrischen Weltordnung von eingeschriebenen Macht-Wissen-Komplexen. Es ist kein Zufall, dass für den Schulunterricht konzipierte geographische Wandkarten und –bilder mit wirtschaftsgeographischen und kolonialpolitischen Themen ihre Hochblüte in einer Zeit hatten, die von immer schneller erfolgenden Globalisierungssprüngen gekennzeichnet war. Jedoch überholten sich die Darstellungen im 20. Jahrhundert bisweilen noch während der Schulzeit. Allein in Mitteleuropa kam es im Verlauf des 20. Jahrhunderts durch zwei Weltkriege und der deutschen Teilung zu dramatischen Verschiebungen der Ländergrenzen. In der Zwischenkriegszeit wurden die Verbreitung von „Kulturräumen“ und „Rassen“ sowie geopolitische Szenarien der Bedrohung und Expansion mit Pfeilen, Symbolen, Linien und Farben visualisiert, revisionistische Forderungen gestellt und machtpolitische Einflusssphären als vermeintliche Notwendigkeit dargestellt. In der Nachkriegszeit standen die Visualisierungen wiederum unter dem Eindruck des Ost-West-Konflikts. Somit waren Karten und Bilder, wie die aktuellen Forschungen der kritischen Kartographie und Bildwissenschaft zeigen, keineswegs „neutrale“ Abbilder der Wirklichkeit, sondern spiegelten stets auch die gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Ordnungsvorstellungen ihrer jeweiligen Epochen in lokalen, regionalen und globalen Maßstäben wider.
Das Projekt beabsichtigt einen Überblick über die wechselvolle Medien-, Kultur- und Wissensgeschichte dieser einzigartigen Lehrmittel im deutschsprachigen Raum, vom 19. Jahrhundert bis zum digitalen Umbruch der jüngeren Zeitgeschichte zu geben. Im Projektverlauf werden diese Medien mit ihren spezifischen Darstellungsmodi sowie die Orte, Akteure und Praktiken der Wissensgenerierung und -vermittlung in ihren wechselnden historischen Kontexten untersucht. Von besonderem Interesse ist, wie u.a. Kartographen, Künstler, Lehrer, Wissenschaftler und Verlage durch ihre Zusammenarbeit (mittels Auswahl von Symbolen, Farben, Perspektiven und Formaten) geographische, ästhetische und didaktische Ansprüche miteinander verbanden. Dabei zielt die Untersuchung nicht nur auf die Analyse einzelner Medien, sondern auch auf die Beziehung von Text, Bild und Karte im Verhältnis zueinander. Hierzu wird verfolgt, wie durch die Kombination von großformatigen Karten und Bildern sowie ihren Begleittexten wirkmächtige geographische Imaginationen bzw. Visiotype der kollektiven Identitätsbildung und mentalen Verortung entstehen konnten, die sich über Differenzierungen zwischen dem „Nahen“ und „Fernen“ (Heimat, Region, Nation, Erdteile, Welt) sowie dem „Eigenen“ und dem fremdartig anmutenden „Anderen“ definieren konnten. Dabei soll untersucht werden, wie die Welt im Klassenzimmer nicht einfach nur abgebildet oder visualisiert wurde, sondern wie Vorstellungsräume im Kontext des „nation-building“ über das bildliche „Sich-Vertraut-Machen“ (familiarize) mit „Heimat“ und „Nation“ geschaffen und durch ihre Inhalte, Darstellungsweisen und Ästhetik affektiv aufgeladen wurden.
Bisher ist die Geschichte der deutschsprachigen Schulwandkarten und geographischen Wandbilder, von wenigen Überblicksdarstellungen und Einzeluntersuchungen abgesehen, weder tiefergehend noch in Beziehung zueinander untersucht worden. Deshalb werden neben den eigentlichen Karten, Bildern und Erläuterungsheften, auch Verlagskataloge, Lehr- und Lehrerhandbücher, Fachzeitschriften und Archivalien ausgewertet . Vor dem Hintergrund der aktuellen Forschungen zur Geographie-, Kartographie- und Wissensgeschichte sowie der historischen Bildungs- und Bildwissenschaften werden Prozesse der Konzeption, Produktion und des Gebrauchs von großformatigen Karten und Bildern mit ihren historischen Kontinuitäten und Brüchen erforscht.
Laufzeit
04/2021–
Bearbeiter
Dr. Norman Henniges
Publikationen
N.N.
Kooperation(en)
N.N.
Kontakt
norman.henniges[at]oeaw.ac.at
WorldImages │ Geographical imaginaries on canvas from about 1830 to 1990.
„I see the classroom. Four windows, catheder, stove, cupboard, wall map. There is nothing missing, the picture is still complete.“ In his memoirs, the writer Hermann Hesse traced the characteristic arrangement of a village school as many people of the 19th and 20th centuries had come to know it from their earliest youth. The material culture of the classroom was always a collective memory space. Almost as a matter of course, school wall maps or wall charts were also part of this for Hesse and many subsequent generations. These visualizations attracted attention not only through the expansive dimensions of their physical presence in the classroom, but also through their memorable graphic and artistic design.
Unlike the school atlas, the geography textbook, or the globe, school wall maps and charts, with their striking design, bright colors, and imposing dimensions, were designed for frontal group instruction. Both allowed each child to see the essentials even from the last row of benches. Especially in village schools, where not every child had his or her own school atlas or textbook, these large-format visualizations made of paper, canvas and wood could not be missing from any geography lesson and were also dominant fixtures in every classroom during history and religion lessons. For many generations of children and young people, these media represented the first access to the world through which the pupils could spatially locate themselves. In the course of the 20th century, school wall maps and charts increasingly received competition from slides, films and overhead transparencies. But it was not until the digital upheaval at the turn of the millennium that this media genre gradually came to an end in its material presence form. When the maps were hung up on the map stand, slowly unrolled and the movements of the pointing stick were explained by the teacher, new continents, regions and landscapes unfolded before the children’s eyes, leading them from their homeland to distant, exotic-looking countries and finally to the earth as a whole. Maps with their generalizing top view and images with their typological landscape sections were each subject to their own modes of representation, which in turn could be closely linked to each other in differently arranged media ensembles.
The central task of these media consisted above all in the descriptive, cartographic or pictorial communication of spatial knowledge about the earth. But often the large-format maps and images were much more than that. In the „long“ 19th century, these Euro-centered spatial visualizations were elementary components for teaching local history and national visualization. Finally, in the age of high imperialism between 1880 and 1920, they served to convey an asymmetrical world order of inscribed power-knowledge complexes. It is no coincidence that geographical wall maps and pictures designed for school lessons with economic-geographical and colonial-political themes had their heyday in an era characterized by increasingly rapid leaps in globalization. However, in the 20th century, these representations sometimes became obsolete while the children were still in school. In Central Europe alone, two world wars and the division of Germany caused dramatic shifts in national borders during the 20th century. In the interwar period, the spread of „cultural areas“ and „races“ as well as geopolitical scenarios of threat and expansion were visualized with arrows, symbols, lines, and colors, revisionist demands were made, and spheres of political power were presented as a supposed necessity. In the postwar period, visualizations were again influenced by the East-West conflict. Thus, as current research in critical cartography and visual studies shows, maps and images were by no means „neutral“ representations of reality, but always reflected the social, cultural, and political ideas of order of their respective epochs on local, regional, and global scales.
The project intends to provide an overview of the changing media, cultural, and knowledge history of these unique teaching aids in the German-speaking world, from the 19th century to the digital upheaval of recent history. In the course of the project, these media with their specific modes of representation as well as the places, actors, and practices of knowledge production and teaching will be examined in their changing historical contexts. Of particular interest is how cartographers, artists, teachers, scholars, and publishers, among others, linked geographical, aesthetic, and didactic claims through their collaborations (by means of choices of symbols, colors, perspectives, and formats). The investigation aims not only at the analysis of individual media, but at the relationship of text, image and maps in relation to each other. To this end, it will be examined how the combination of large-format maps and images as well as their accompanying texts could give rise to powerful geographical imaginaries and visiotypes of collective identity formation and mental localization. The focus is therefore on geographical concepts and differentiations, such as „near“ and „far“ (homeland, region, nation, continents, world) as well as the „own“ and the strange-seeming „other.“ The aim is to examine how the world was not simply depicted or visualized in the classroom, but how, in the context of nation-building, imaginative spaces were created through the visual familarization of „Heimat“ and „nation,“ which became affectively charged through content, modes of representation, and aesthetics.
So far, the history of the German-speaking school wall maps and geographical wall charts has not been examined in depth or in relation to each other by a few overviews and individual studies. For this purpose, in addition to the actual maps, images, and explanatory booklets, publisher’s catalogs, instructional and teacher’s manuals, professional journals, and archival materials will be evaluated. In the context of recent research on the history of geography, cartography, and knowledge, as well as historical educational and visual studies, processes of conception, production and usage of maps and images will be explored with their historical continuities and ruptures.
Duration
04/2021-
Researcher
Dr Norman Henniges
Publications
N.N.
Cooperation(s)
N.N.
Contact
norman.henniges[at]oeaw.ac.at