Der Verlag Justus Perthes, der 1785 in Gotha gegründet wurde, spezialisierte sich um 1815 zunehmend auf die Herstellung von Karten und Atlanten. Ab den 1850er Jahren erlangte er durch seine Funktionsweise als transnationaler Knotenpunkt geographischer Wissensverarbeitung und -verteilung insbesondere bei der Erforschung unbekannter Regionen weltweite Bekanntheit. Auch die hohe Qualität seiner Produkte setzte neue Maßstäbe.
In meiner Dissertation geht es um den sukzessiven Wandel, der den Verlag gegen Ende des 19. Jahrhunderts erfasste. Die weite Verbreitung neuer Kartendruckverfahren hatte die Verlagslandschaft verändert und neue visuelle Gestaltungsformen ermöglicht. Der sich verstärkende Nationalismus prägte zunehmend die Raumkonzepte von Geographie und Kartographie. Nicht minder taten dies der Untergang tradierter Staats- und Gesellschaftsordnungen im Gefolge des Ersten Weltkriegs und das aufkommende ‚Zeitalter der Extreme’. Der Untersuchungszeitraum der Arbeit endet 1945 mit dem Bankrott rassistischer Utopien in Deutschland.
Den Untersuchungsgegenstand bilden die kartographischen Abbilder dieser politischen Verwerfungen. Sie sollen anhand von Fallbeispielen aus der Produktion des Perthes-Verlags in ihren Entwicklungen und Brüchen nachgezeichnet werden. Die beiden prägendsten Kartographen des Verlags in dieser Zeit – Hermann Haack und Paul Langhans – dienen dabei als ‚biographische Sonden’ um die kartographische Wissensproduktion im Spannungsfeld von Politik und Ökonomie sichtbar zu machen.
Der Umstand, dass es sich bei Perthes um einen privatwirtschaftlichen Verlag handelte, eröffnet dabei die Möglichkeit, seine Erzeugnisse stärker in den konkreten ökonomischen Kontexten zu betrachten, als es die bisherige Forschung zum Zusammenhang von Kartographie und Politik im 19. und 20. Jahrhundert getan hat. Dadurch wird erkennbar, dass ökonomisches Kalkül, politischer Diskurs und die Popularisierung von Wissen in einem intensiven Wechselverhältnis standen, das bislang zu wenig beleuchtet wurde.
Somit geraten auch ambivalente Prozesse in den Blick, die für den Untersuchungszeitraum insgesamt charakteristischer sind als geradlinige Kontinuitäten. So übernahm der Verlag einerseits Raumkonzepte aus Kolonialbewegung, Kulturimperialismus und völkischen Bestrebungen. Gleichwohl versuchte er andererseits seinen älteren, noch aus dem 19. Jahrhundert herrührenden kosmopolitischen Traditionen gerecht zu werden – nicht zuletzt mit Blick auf den internationalen Absatz seiner Produkte. Als eine privatwirtschaftliche Institution, die gerade am Ende des 19. Jahrhunderts unter verstärkten Konkurrenzdruck geraten war, blieb der Verlag stets bestrebt, unterschiedliche Zielgruppen anzusprechen. Im Verlaufe des Untersuchungszeitraumes – besonders mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs – wurde diese mehrgleisige Strategie durch den aggressiven Nationalismus in Europa zunehmend prekärer.
Die wirtschaftlichen Unsicherheiten und die politischen Erschütterungen, erforderten Kartographen, die verlegerisches Gespür und Anpassungsfähigkeit in Bezug auf Raumkonzepte zu kombinieren wussten und letztere auch in innovative und zweckmäßige visuelle Formen überführen konnten. In den Methoden der Kartengestaltung, die Haack und Langhans anwendeten, in den Deutungsmustern, die in ihre Karten einflossen, in ihren politischen Überzeugungen und Widersprüchlichkeiten, sowie in ihren beruflichen Erfolgen und Fehlschlägen, zeigen sich exemplarisch Eigenheiten privatwirtschaftlich organisierter Herstellung kartographischen Wissens in einer Zeit, in der die Erde zwar fast gänzlich erkundet war, die Grenzen des Bekannten und Denkbaren dennoch beständig verschoben wurden.
Bearbeiter:
Philipp Julius Meyer, M.A.
Betreuerin:
Prof. Dr. Susanne Rau (Universität Erfurt)
Ko-Betreuerin:
Prof. Dr. Ute Wardenga (Leibniz-Institut für Länderkunde Leipzig)
Laufzeit:
07/2014 – 01/2019
Förderung:
01/2015 – 12/2017 Promotionsstipendium des Evangelischen Studienwerks Villigst
Publikationen:
Kartographie und Weltanschauung. Visuelle Wissensproduktion im Verlag Justus Perthes 1890-1945. Göttingen 2021.
The use of color in geographic maps. In: Bettina Bock von Wülfingen (Hg.): Science in color: visualizing achromatic knowledge. Berlin 2019. (gemeinsam mit Jana Moser)
Paul Langhans, in: Michael Fahlbusch / Ingo Haar / Alexander Pinwinkler (Hg.): Handbuch der völkischen Wissenschaften. Akteure, Netzwerke, Forschungsprogramme, 2. vollst. überarb. u. erw. Aufl. Berlin und Boston 2017, S. 404-408.
„Das Gesamtbild des Vaterlandes stets vor Augen“: Hermann Haack und die Gothaer Schulkartographie vom Wilhelminischen Kaiserreich bis zum Endes des Nationalsozialismus, in: Zeitschrift für Geographiedidaktik 44 (2016), H. 4, S. 37-60. (gemeinsam mit Norman Henniges)
Kontakt:
philipp.meyer@uni-erfurt.de
p_meyer@ifl-leipzig.de
Philipp Meyer
Leibniz-Institut für Länderkunde
Abt. Theorie, Methodik und Geschichte der Geographie
Schongauerstraße 9
04328 Leipzig