Seit dem Beginn der jüngsten russischen Invasion der Ukraine im Februar 2022 sieht ein großer Teil der nordatlantischen Medienlandschaft ein neues Zeitalter der Geopolitik aufziehen. Die aggressive russische Großmachtpolitik wird vielerorts entweder als Ausdruck geopolitischen Denkens im Kreml oder gar als direkte Konsequenz geographischer ‚Zwänge‘ und Gewalten interpretiert. Gebirgskämme, Ölfelder, Pipelines sowie die klimatischen Bedingungen der Kriegsführung geraten damit ebenso ins Rampenlicht der medialen und politischen Analyse wie tradierte geopolitische Vorstellungen, die als handlungsleitend und -legitimierend identifiziert werden. Eine besondere Rolle spielt dabei der ultranationalistische Geopolitiker Alexander Dugin, der sich freizügig bei den Raumkonzepten Friedrich Ratzels, Halford Mackinders und Carl Schmitts bedient. Jenseits der ausgedehnten wissenschaftlichen Kritik an geopolitischen Imaginationen, Denk- und Argumentationsmustern ist ‚Geopolitik‘ wieder in vieler Munde – und sei es nur in zeitdiagnostischer Absicht.
Und dennoch ist es unklar, ob die Geopolitik zwischen 1945 und 2022 je wirklich abwesend war. Während die deutsche Geopolitik heute primär als Vorgeschichte der nationalsozialistischen Eroberungs-, Vernichtungs- und Lebensraumpolitik verstanden wird und dementsprechend seit 1945 als ideologisch kontaminiert gilt, erwies sich eine britische Variante als anpassungsfähiger (Werber, 2014). Zwar geriet auch Mackinders “geographischer Dreh- und Angelpunkt der Geschichte” angesichts des verheerenden Weltkrieges, der in seinem Namen ausgetragen wurde, unter Erklärungsdruck. Und doch lebte die mit Mackinders Namen verbundene Weltanschauung in den angloamerikanischen Militärkreisen nach 1945 weiter. Auch in der Zeit nach 1989 fand die Geopolitik in vielen europäischen Gesellschaften neue Anhänger (Guzzini, 2012). Versatzstücke geopolitischer Imaginationen waren nie ganz verschwunden und einzelne Begriffe, wie etwa Ratzels Grenzsaum, werden – auch lange vor der aktuellen russischen Invasion – bewusst auch zu analytischen Zwecken reanimiert (Cuttitta, 2014). Mindestens unterschwellig und latent setzt sich geopolitisches Denken auch nach 1945 fort.
Unsere Paper-Sitzungen versuchen neues Licht in Kontinuitäten und Brüche der Geopolitik nach 1945 zu bringen.
Wir befassen uns mit den folgenden Fragen:
- Wie hat sich Geopolitik in Theorie und Praxis nach 1945 weiterentwickelt? Wie, wo, durch wen und entlang welcher diskursiven und praktischen Linien differenziert sie sich aus?
- Welche Rolle haben die Konzepte der klassischen Geopolitik (Großraum, Grenzsaum etc.) in der Nachkriegszeit gespielt und spielen sie immer noch?
- Welche Bedeutung hat geopolitische Theoriebildung für die (Human-)Geographie im frühen 21. Jahrhundert?
Vorträge können auf Deutsch oder Englisch gehalten werden; die Diskussion wird flexibel darauf abgestimmt.
Panpsychism, space colonisation and the origins of astropolitics
Postsouveräne Territorialität: Die Europäische Union als Großraum