Geographien des Verlusts entstehen im Zusammenspiel von historischen, gesellschaftspolitischen, kulturellen, räumlichen und planetarischen Transformationen. In Geographie und Geschichtswissenschaft erscheint die systematische und konzeptionelle Erschließung von Verlust als Desiderat, was angesichts der Ubiquität von Krisendiagnosen im Anthropozän überrascht. Der Call for Papers lädt ein, die Geographien des Verlusts in konzeptionellen und empirischen Beiträgen zu erkunden.
Geographien des Verlusts
Abschiede, Trauer, Erinnerungen – Verlusterfahrungen und ihre Deutung nehmen im (mehr-als-)menschlichen Leben eine zentrale Rolle ein. Zwicky (2014) argumentierte, dass alle größeren Wissenssysteme darauf ausgelegt seien, die Welt gegen Verlust abzusichern. Während Tod als Ereignis begegnet, so zeige sich Verlust in verschiedenen Formen und Intensitäten als beständige Begleitung. Auf-, Ab- und Umbrüche werden potentiell von Verlust begleitet, Zukünfte häufig im Modus der Verlustbearbeitung erschlossen. Die praxeologische und performative Dimension der Verlustbearbeitung („doing loss“) gliedert sich in individuelle und kollektive Praktiken des Trauerns, Erinnerns und Verdrängens, in Praktiken der Verlustprävention, -kompensation und -restitution, wird in Rituale, Narrative und Imaginationen übersetzt und ist Gegenstand politischer Aushandlungen (Marris 1974; Reckwitz 2021). Wenn positive und hoffnungsvolle Deutungen der Zukunft krisenhaft werden, erlangen Praktiken der Verlustbearbeitung Konjunktur wie Benjamin (1940) in der geschichtsphilosophischen These über Klees ‚Engel der Geschichte‘ insinuiert.
Geographien des Verlusts entstehen im Zusammenspiel von historischen, gesellschaftspolitischen, kulturellen, räumlichen und planetarischen Transformationen. Als Ergebnisse tiefgreifender Veränderungen ist ihre individuelle und kollektive Deutung relational an eine vorausgegangene und als abgeschlossen gewertete Zeitlichkeit und Räumlichkeit gebunden. In Geographie und Geschichtswissenschaft erscheint die systematische und konzeptionelle Erschließung von Verlust als Desiderat (Jedan et al. 2020), was angesichts der Ubiquität von Krisendiagnosen im Anthropozän überrascht (Cunsolo/Landman 2017).
Der Call lädt ein, die Geographien des Verlusts in konzeptionellen und empirischen Beiträgen zu erkunden:
– Affekte, Praktiken, Räume des Verlusts/der Verlustbearbeitung im Lebensverlauf (Abschied, Trauern, Übergänge, Erinnern, Gedenken, Verdrängen), Solastalgie, Nostalgie
– Verlust im Anthropo- und Nekrozän, Umweltwandel, Biodiversitätsverlust, Geographien des Verlusts im Kontext von Bergbau, ungleicher Entwicklung und Landnutzung
– Materielle Raumproduktionen und (urbane) Architekturen des Verlusts (Ruinen, Relikte, Palimpseste), histor.-geogr. Rekonstruktionen, Restitution
– Politische Geographien des Verlusts: Diskurse und Narrative des Verlusts, Populismus und Verlust
– Methoden zur Erforschung von Geographien des Verlusts
Literatur
Benjamin, W. (2010 [1940]): Über den Begriff der Geschichte. In: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 19. Berlin.
Cunsolo, A./Landman, K. (Hrsg.) (2017): Mourning Nature: Hope at the Heart of Ecological Loss and Grief. Montreal.
Jedan, C./Maddrell, A./Venbrux, E. (Hg.)(2020): Consolationscapes in the Face of Loss. Grief and Consolation in Space and Time. Abindgon.
Marris, P. (1974): Loss and Change. New York.
manuel.schramm@phil.tu-chemnitz.de
simon.runkel@uni-jena.de