Als der französische Geograph Paul Vidal de la Blache 1908 die Frage aufwirft, wie es dazu komme, dass ein Teil der Erdoberfläche zu einem Vaterland werde, herrscht unter deutschen wie französischen Geographen weitgehende Einigkeit, dass der physischgeographische Raum einen entscheidenden Einfluss auf das Werden einer Nation hat. Die identitätsstiftende Kraft von Raumbildern, die deutschen wie französischen Geographen des 19. Jahrhunderts dem eigenen nationalen Raum gleichermaßen zuschreiben, ist von der historiographischen Forschungsliteratur bislang jedoch ignoriert worden. Die vorliegende ideengeschichtliche Arbeit schließt diese Lücke und rekonstruiert den geographischen Legitimationsstrang im transnationalen Konstituierungsprozess der ‚imagined community’ in Deutschland und Frankreich zwischen 1789 und 1914. Mit dem Blick über den eigenen Nationalstaatscontainer hinaus soll dem Befund Rechnung getragen werden, der die Nationalstaatsbildung des 19. Jahrhunderts als einen transnationalen Prozess des ‚Europas der Nationen’ hervorhebt. Im Rahmen von disziplinhistorischen Arbeiten, die über den eigenen nationalstaatlichen rahmen nicht hinauskommen, Singularitäten lösen sich in Luft auf. So kann im Rahmen dieser Studie gezeigt werden, dass die Genese geographischer Raumbilder in Deutschland und Frankreich in das transnationale Basiskonzept der natürlichen Länder eingebettet ist. Hierbei lassen sich erstaunliche parallele Entwicklungen im Konstituierungsprozess eines geographischen nationalen Selbst‐ und Fremdbildes nachweisen. Darüber hinaus kann gezeigt werden, dass insbesondere das geographische Fremdbild des jeweils Anderen einen herausragenden Beitrag zur Schärfung oder sogar zur Konstituierung des geographischen nationalen Selbstverständnisses leistet. Für den untersuchten Zeitraum kann die vorliegende Arbeit Kontinuitäten und Brüche in der Selbst‐ und Fremdwahrnehmung herausarbeiten, die zudem, trotz unterschiedlicher fachinterner Rahmenbedingungen, vergleichbare konjunkturelle Verläufe geographischer Paradigmen aufweisen. Sowohl französische wie deutsche Geographen legen nicht das bis dahin übliche staatengeographische Darstellungsprinzip ihren geographischen Legitimationsbemühungen zugrunde, sondern identifizieren den territorialen Bezug allein aus dem physisch‐geographischen Raum. Sie bedienen sich hierbei eines breiten Repertoires tradierter geographischer Denkfiguren, die für das eigene nationale Selbstbild und das jeweilige Fremdbild umgedeutet werden. Die Unterschiede in der Genese des geographischen Selbst‐ und Fremdbildes ergeben sich insbesondere aus der relativen Stabilität des französischen Raumbildes gegenüber dem deutschen. Sowohl die historische Referenzgröße der deutschen Geographie mit dem Alten Deutsche Reich, das im Gegensatz zum antiken Gallien der französischen Seite deutlicher im Hintergrund bleibt, sowie die bis 1871 noch ausstehende deutsche Nationalstaatsbildung bieten der deutschen Seite jene Leerstelle, um z.T. schwindelerregendeDeutschlandvisionen zu entwickeln. Ab den 1880er Jahren gehen deutsche und französische Geographen zusehends getrennte Wege, indem auf der französischen Seite zu dem geographischen Argument das Renansche Verständnis der Nation als Interessensgemeinschaft dazustößt, während auf deutscher Seite mit der ‚völkische Wende’ der ‚Wille des Volkes’ immer stärker akzentuiert wird.
— 2015, Publikationen —
Björn Schrader (2015): Die Geographisierung der Nation: der Beitrag der Geographie zum nationalen Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1789-1914. (= Beiträge zur Regionalen Geographie; 67) Leibniz-Inst. für Länderkunde: Leipzig.
2. März 2019