Die „quantitativ-theoretische Wende“ bezeichnet eine Phase der wissenschaftlichen Geographie, in der aus der Kritik an einer zumeist idiographischen länderkundlichen Geographie die Forderung nach einer neuen szientifischen Ausrichtung hervorging. In der Geschichtsschreibung der Geographie wird dieser Prozess unter dem Schlagwort „quantitativen Revolution“ verhandelt, auf der Ebene von Wissenschaftstheorie und wissenschaftlicher Praxis stellt er einen der wesentlichen Transformationsmomente der Disziplin dar. Im Gedächtnis der Disziplin wird die „quantitativ-theoretische Wende“ auf einige wenige Ereignisse fokussiert: den Geographentag in Kiel 1969, die Veröffentlichung von Dietrich Bartels‘ Habilitation, der Hinwendung zu kritischem Rationalismus und die Einführung der Diplomstudiengänge. Diese dominante Erzählung hält einer genaueren historischen Untersuchung nicht stand und produziert ein Narrativ zur Disziplin Geographie, das in problematischer Weise vereinfacht und geglättet ist. Mit diesem Mythos setzt sich das Forschungsprojekt kritisch auseinander und sieht sich als Teil einer fundierteren und umfassenderen historiographischen Aufarbeitung.
Ausgehend von Ansätzen in der Wissenschaftsgeschichte von Shapin, Rheinberger und Daston und den bereits abgeschlossenen Projekten von Barnes und Hannah zur anglophonen Geographie, soll nicht allein eine ideengeschichtliche Perspektive entworfen werden, sondern Wissenschaft als soziale, verkörperte, materielle und lokalisierte Praxis begriffen werden. Hierfür wählt das Projekt einen doppelten Zugriff auf seinen Gegenstand.
1) Einerseits in Form einer historischen Netzwerkanalyse, welche systematisch und auf die Breite gerichtet das Feld der deutschsprachigen Geographie der 1950er bis 1970er Jahre untersucht. Die Historische Netzwerkanalyse bietet, als ein exploratives Verfahren zur Beschreibung von Relationen und Interaktionen in Netzwerken aus Personen, Institutionen und Wissen die Möglichkeit, ex post formulierte und produzierte Erzählungen über zentrale Akteure und Ereignisse zu destabilisieren.
2) Ausgehend hiervon wird in Form einer lokalen und ortsbezogenen Perspektive deutlich zu machen sein, dass jenseits der dominanten Erzählung eines einheitlichen Paradigmas dieser neuen Geographie eine Reihe lokaler „quantitativer Revolutionen“ stattgefunden haben, die eigenständige Verständnisse produziert haben. Diese lokalen Realisierungen eines quantitativ-theoretischen Denkens und quantitativ-theoretischer Epistemologien in der Geographie haben eine divergentere vielfältigere Praxis hervorgebracht, als dies in den konzeptionellen Begründungstexten expliziert wurde.
Das Forschungsvorhaben zielt darauf, die Geschichte der „quantitativ-theoretischen Wende“ in der Geographie als einen komplexen, heterogenen und widersprüchlichen Prozess zu beschreiben. Eine historiographische Auseinandersetzung mit der „quantitativ-theoretischen Wende“ ist sowohl aus einem disziplinhistorische Interesse (im Sinne der Notwendigkeit eines adäquaten Verständnisses der Historizität der eigenen Theorien und Konzepte) als auch aus aktuellen Problemen heraus (die sich im Rahmen einer neuen quantitativen Wende und Big Data abzeichnen) dringlich geboten.
Laufzeit
2014-2020
Bearbeiter
Dr. Boris Michel und Katharina Paulus
Publikationen
Gyuris, F., B. Michel und K. Paulus (Hg.) (i.E.): Recalibrating the Quantitative Revolution in Geography. Travels, Networks, Translations. London: Routledge.
Michel, B. (2014). Wir sind nie revolutionär gewesen. Zum Mythos des Kieler Geographentags als der Geburtsstunde einer neuen Geographie. Geographica Helvetica, 69, 301–303.
Michel, B. (2016). Seeing Spatial Structures. On the Role of Visual Material in the Making of the Early Quantitative Revolution in Geography. Geografiska Annaler B, 98, 189–203.
Michel, B. (2017). Pre-Thinking GIS – Zur Visuellen Politik der frühen quantitativ-theoretischen Geographie. Geographica Helvetica, 72, 377–387.
Michel, B. und K. Paulus (2018): Raumbezogene Erinnerungspolitiken an Beispielen aus Fürth, Nürnberg, Erlangen. Bericht zu einer Lehrforschung zwischen historischer Geographie und politischen Geographien der Erinnerung. In: Mitteilungen der fränkischen Geographischen Gesellschaft, 63.
Paulus, K. (2017). Revolution ohne Kiel und ohne Revolution – Die quantitativ-theoretische Geographie in Erlangen. Geographica Helvetica, 72, 393–404.
Paulus, K. (2018): Jenseits von Kiel: Zu einer Wissenschaftsgeschichte der quantitativ-theoretischen Wende in der deutschsprachigen Geographie. In: Geographica Helvetica 73, S. 301-307, DOI: 10.5194/gh-73-301-2018.
Weitere Informationen
Dr. Boris Michel
Institut für Geographie
Universität Erlangen-Nürnberg
Wetterkreuz 15
D-91058 Erlangen
Tel.: +49 (0)9131 85-23303
E-Mail: boris.michel@fau.de