Spätestens seit dem Spatial Turn stehen Raumkonzeptionen in der Geschichtswissenschaft zur Debatte. Verschiedene Studien haben in den letzten Jahren dazu beigetragen, neue Perspektiven auf historische Räume aufzuzeigen. Was für den Nationalstaat als hermetischen Rahmen historischer Analysen und Methoden galt, muss dabei auch für andere Raumkonzeptionen gültig sein: „History takes place“, aber wie sich das vollzieht, weicht von der einst angenommenen Selbstverständlichkeit ab und ist mittlerweile selbst zum Objekt geschichtswissenschaftlicher Untersuchung geworden.
Der von uns konzipierte Workshop hinterfragt vor diesen Prämissen den Umgang mit europäischen Grenzregionen in den Geschichtswissenschaften. Wo liegen ihre Grenzen jenseits des Topographischen? Von historischen und kulturellen Konzeptionen geprägt, durch politische Grenzen zerstückelt oder zusammengefügt sowie als Raum von Kooperation und Konflikt sind sie komplexe Untersuchungsobjekte. Hier wird Simmels Aussage, Grenzen seien keine „räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt“[1] besonders deutlich. Grenzregionen sind daher ein Raum der Deutungskämpfe, mit denen sich auch der anstehende Historikertag an der LMU München beschäftigen wird.
Teildisziplinen wie die Global-, Regional- oder Landesgeschichte haben zu Grenzregionen unterschiedliche theoretische und methodische Zugänge entwickelt. Ob als Fallbeispiel bezüglich der Entstehung, Verbreitung und Anwendung von Technologien, Strategien oder Praktiken, als Teil einer (bilateralen) Verflechtungsgeschichte und Interaktionsraum von Nationalstaaten oder als empirische Basis einer „Geschichte von unten“: die Lesarten der Grenzregion sind vielfältig. Auch die Public History eröffnet besondere Perspektiven auf die Grenzregionen mit ihren spezifischen Ausprägungen von Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur. Historische Vermittlungs- und Bildungsarbeit profitiert dort von einem unmittelbareren Zugang zu Problemen der Makrogeschichte. Damit verbunden sind häufig Erwartungen, die Überwindung vergangener Konfliktlagen zu veranschaulichen.
Für die Thematik des Workshops bedeuten Grenzregionen eine Chance, Raumperspektiven anhand differenter Fallbeispiele dar- bzw. gegenüberzustellen und zu diskutieren, denn hier greifen die klassischen Herangehensweisen oftmals nicht. Die verschiedenen Dynamiken zwischen Lokalem, Regionalem und Transnationalem sollen in die Analyse mit einbezogen werden. Mögliche Fragen und Themen können dabei umfassen:
– Gibt es ein spezifisches historisches Verständnis von Grenzregionen? Wie wird damit öffentlich umgegangen und wie wird es vermittelt?
– Was macht eine Grenzregion aus global-, regional- oder landeshistorischer Perspektive zu einer solchen? Wie wird sie jeweils konzeptioniert?
– Welche Ausprägungen findet die Geschichtskultur in Grenzregionen? Wie ist sie mit verschiedenen Raumkonstruktionen verknüpft und welche Akteur:innen spielen dabei eine Rolle (Museen, Vereine, Geschichtsmarketing, Bildungsinstitutionen, etc.)?
– Wo verlaufen die Grenzen innerhalb der Grenzregionen, wie interagieren die verschiedenen Grenzziehungen (sozial, politisch, kulturell) miteinander?
– Gibt es Themen, die sich besonders auf Grenzregionen auswirken, z.B. die europäische Kolonialgeschichte? Wie werden Prozesse der Inklusion und Exklusion, soziale und ökonomische Beziehungen davon beeinflusst?
– Wie konstituieren sich regionale Identitäten? In welchem Verhältnis stehen diese zu anderen sinnstiftenden Verortungen? Und wie lassen sich diese untersuchen?
– Welche praktischen Hindernisse gibt es bei der Erforschung von Grenzregionen (unterschiedliche Archivstrukturen, Verwaltungssysteme, etc.)?
– Wie entwickeln und vernetzen sich die Verwaltungsstrukturen solcher Regionen und ihrer Städte im historischen Verlauf?
– Ist eine integrierende Perspektive auf Grenzregionen, die verschiedene geschichtswissenschaftliche Ansätze vereint, möglich oder erstrebenswert?
Diese Fragen knüpfen an die Diskussion über das Nebeneinander von Inklusion und Exklusion an kulturellen und politischen Grenzen und die Konstruktion regionaler Identitäten als Herausforderung der Public History auf den Historicidagen 2019 in Groningen an. Mit dem Workshop soll ein Format geschaffen werden, das verschiedene Teilbereiche der Geschichtswissenschaft und benachbarte Disziplinen zusammenbringt.
Organisiert wird der Workshop durch den Arbeitskreis deutsch-niederländische Geschichte (ADNG-WDNG) und die Junior-Professur für Public History an der Universität zu Köln. Kooperationspartner ist der FID Benelux.
Die Vortragsprachen sind Englisch und Deutsch. Bei Diskussion und Kommunikation möchten wir darüber hinaus rezeptive Mehrsprachigkeit (für Niederländisch und Französisch) praktizieren. Die Teilnahme am Workshop ist kostenlos. Reise- und Unterbringungskosten der Referierenden können, vorbehaltlich der Finanzierung, bis zu einer bestimmten Höhe übernommen werden. Vorschläge für Beiträge zu allen Epochen in einem geplanten zeitlichen Umfang von 20 Min. mit Titel und einem knappen CV werden in Form kurzer Exposés von maximal 500 Wörtern bis zum 30. September 2020 an Dr. Lina Schröder, lina.schroeder@uni-wuerzburg.de, erbeten.
Eine anschließende Publikation ist geplant.
Organisation
Dr. Marieke Oprel; Dr. Lina Schröder, Markus Wegewitz (ADNG-WDNG)
Prof. Dr. Christine Gundermann (Junior-Professur für Public History/Universität zu Köln)
Kooperationspartner
FID Benelux / Low Countries Studies: Fachinformationsdienst für Niederlandistik, Niederlande-, Belgien- und Luxemburgforschung
[1] Simmel, Georg: Soziologie des Raumes, in: Gustav Schmoller (Hrsg.), Das Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtspflege des Deutschen Reiches. Neue Folge, Leipzig 1903, S. 27–71, hier S. 46.
Kontakt
Markus Wegewitz
Europäisches Kolleg Jena / Historisches nstitut
Fürstengraben 13, D-7743 Jena
markus.wegewitz@uni-jena.de